Zum Komfort des Leidens
par Charlotte Ernst
„Es ist unmöglich uns selbst zu beschreiben, ohne ebenfalls zu beschreiben, vor was wir davonlaufen und wohin wir uns glauben, flüchten zu müssen.“
(Philipps, 2002:16)
Das Leiden Anderer lenkt sehr gut für den Moment von dem eigenen Leid ab. Daher ist es bei vielen ein beliebter Sport. Wann jedoch wurde er so populär? Wann haben wir verlernt, unser Leiden als Anfang eines Heilungsprozesses zu verstehen? Haben wir verlernt, füreinander gesund zu sein?
Es könnte begonnen haben, als wir lernten, dass sich Leiden nicht gehört, also schluckten wir es herunter. Denn Tiefe und Feinfühligkeit, das gutierten nur die Schwachen. Und so wurden wir immer einsamer und frostiger weil wir uns nicht durchsichtig mitteilen durften. Doch da es den Meisten gleich erging, stellte sich ein Gefühl von Verbundenheit ein. Es war keineswegs ein erfüllendes Band, nein– es war wie eine stumme, flügellose Vogelschar. Doch die Loyalität des Leidens machte es zu einem verschwiegenen Pakt, dessen ungebrochene Einhaltung ein seltsames Wohlbefinden erschuf.
Schließlich war da aber doch einer, der seine Stimme entdeckte und das Glück, dass es ihm bescherte, zu singen. Als er dazu noch seine Flügel ausbreitete und abheben wollte, wurde er jedoch in die Seite gehackt und blieb verletzt am Boden zurück. Doch er genas recht bald und als er wieder stärker geworden war, verstand er das wackelige Fundament, auf das seine Liebsten gebaut hatten. Er entschloss sich, unbequem zu werden und hob ab. Aus der Luft sah er sie, gleichsam in Wut und in Verehrung, wie sie ihm hinterher schauten. Und auch, wenn sie am Boden blieben – es raschelte an dem Tag ihr Gefieder.